Denkpause: Matthäi am Letzten

WhatsApp Bild 2025-04-23 um 10.19.57_adf1c98c (Foto: Dagmar Doll)
Ist es in Ordnung, eine Bibel zu stehlen? Besser auf jeden Fall, als wenn sie unbenutzt irgendwo liegt – und sei es in der Kirche: Das findet Pfarrerin Dagmar Doll und wünscht sich neue Eigentümer und Eigentümerinnen für eine Anzahl Bibeln, die in der Stadtkirche bereit liegen.
Swantje Kammerecker,
Im Team der Stadtkirche gibt es mitunter die ein oder andere Diskussion. Oft geht es darum, wie Menschen mit der Umgebung oder den Dingen der Stadtkirche umgehen. Also, wie sieht es bei den Bänken aus oder ist der Sandkasten ordnungsgemäss nach dem Spielen abgedeckt worden. Lädt der Rasen zu einem Sonnenbad ein oder ist er trotz dreier Robidogs eher ein Hunde-WC? Diese Sorge gilt auch dem Innenraum der schönen Kirche. Viele Menschen geben sich im Laufe des Tages dort die Klinke in die Hand. Zugegeben, manchmal werden Dinge entwendet, Kerzen etwa. Auch das bereitstehende Kasseli ist schon mal aufgebrochen worden. Und vielleicht haben auch schon Kinder sich einen Spass daraus gemacht, ausgerechnet hier mit Kieselsteinen zu spielen. Das ist dann nicht schön und ärgert uns auch.

Anders ist es bei diesem „Vergehen“: Es gab eine Zeitlang die Idee, die Bibel vom Abendmahlstisch zu entfernen, damit sie nicht geklaut würde. Sie ist sehr gross und auch hübsch, hat aber sicher eher ideellen Wert. Die Angst, die Bibel könnte geklaut werden, fand ich völlig unbegründet. Eher umgekehrt wäre es doch schön. Eine geklaute Bibel ist eventuell eine benutzte Bibel.

Meine Gedanken gehen zu einem Weg durch die Karwoche, den Schülerinnen und Schüler aufgebaut haben. An jeder Station lud eine Bibel dazu ein, sich näher mit der Station zu beschäftigen. Am Mittwoch habe ich den Weg abgebaut und ich hatte den Eindruck, die Bibeln sind nicht einen cm vom ursprünglichen Platz weggerückt. Das ist doch schade. Ich wäre froh gewesen, hätte sie jemand benutzt und vielleicht sogar entwendet. Denn ich finde, es kann nicht genug Bibeln im Umlauf geben. Eine Bibel, die nur herumliegt, ist eigentlich nutzlos.
Als Jesus sich Maria und Maria von Magdala am Ostermorgen zeigt, da sagt er zu ihnen, sie sollen mit den anderen nach Galiläa gehen, also dorthin, wo alles angefangen hat. Dort auf dem Berg sagt Jesus den massgeblichen Satz, der für die kommenden Jahrtausende für Christinnen und Christen zum Programm wurde. „Die elf Jünger gingen nach Galiläa auf den Berg, zu dem Jesus sie bestellt hatte. Jesus trat auf sie zu und sagte: ‚Gott hat mir unbeschränkte Vollmacht im Himmel und auf der Erde gegeben. Darum geht nun zu allen Völkern der Welt und macht die Menschen zu meinen Jüngern und Jüngerinnen! Tauft sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch aufgetragen habe. Und das sollt ihr wissen: Ich bin immer bei euch, jeden Tag, bis zum Ende der Welt.‘“ Das kann man nachlesen und steht im Übrigen im Matthäus-Evangelium, ganz hinten.

„Matthäi am Letzten“, wie es so schön heisst. Also kurz vor knapp, kurz vor der Katastrophe. Unter Umständen ist ja Matthäi am Letzten, wenn einfache Regeln nicht mehr eingehalten werden, der Rasen verunreinigt wird oder das Kircheninnere zum Spielplatz wird. So etwas stört unser Zusammenleben im ganz Kleinen und wir alles wissen, dass der Weg zu den ganz grossen Missverhältnissen nicht weit ist, immer dann, wenn es um Machtstreben und Vorteilsnahme geht. „Matthäi am Letzten“ heisst: Jetzt ist fertig!

Diese letzten Worte zielen aber in Wahrheit nicht auf den Untergang der Welt, sondern auf die Zusage von Jesus: Siehe, ich bin bei euch, alle Tage! Was auch geschehen mag. Aber was heisst das? Wie und wo kann ich das sehen, spüren, hoffen? Indem ich die Bibel zur Hand nehme, die Worte Jesu aufschlage und anfange zu lesen. Das wird mir nicht alles gefallen, aber ich werde auf manche einfache Lösung für grosse Probleme stossen. Worte wie: „Liebe deine Nächsten wie dich selbst!“ oder „Wer von euch ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein!“ oder „Selig sind die, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden!“ sind keine leeren Worte. Das sind Grundwerte des christlichen Glaubens und einer humanen Gesellschaft. Wenn jede und jeder sich dafür einsetzt, ist noch lange nicht Matthäi am Letzten.

Ich mache einen Versuch und packe die Bibeln nicht wieder in den Schrank. Ich lege sie in der Stadtkirche aus und schreibe „Zum Mitnehmen!“ dran. Mal schauen, was passiert.

Text und Bild: Pfarrerin Dagmar Doll